"Als ich krank wurde, änderte sich mein Leben"


Der Bremer Andy Müller lebt seit sechs Jahren mit Multipler Sklerose

Andy Müller mit seiner Hündin Sunny, 2018 (Foto: Sabine Unglaub)
Andy Müller mit seiner Hündin Sunny, 2018 (Foto: Sabine Unglaub)

Als wir uns kennen lernen, ist Andy Müller 48. Er lebt mit seiner Hündin Sunny in Huckelriede.

 

Andy sitzt im Rollstuhl. Vor etwa fünf Jahren haben die Ärzte bei ihm, dem selbständigen Allroundhandwerker und Freiheitsdenker, MS diagnostiziert. Korrekt müsste es heißen: Er selbst hat herausgefunden, dass mit ihm etwas "nicht stimmt" - bis zur Diagnose seiner Krankheit verging noch einige Zeit.

 

Anfang November 2018 sitzen Andy und ich beim Kaffee zusammen. 

 

Andy, was hat sich mit der Diagnose deiner Krankheit verändert?

Mein ganzes Leben vorher war ja Arbeit. Die Arbeit und meine Beziehung, das waren meine sozialen Kontakte. Plötzlich ist meine Beziehung weggebrochen und durch die Krankheit auch meine Arbeit, damit ist mein gesamtes Sozialleben weggebrochen.

 

Durch deine Krankheit ist deine Beziehung kaputt gegangen?

Es geht nichts kaputt durch solche Scheiße, was vorher nicht eh schon gebrochen war. Das war eh schon nicht das Beste. Das ist 2015 dann erst komplett in die Brüche gegangen. Der entscheidene Punkt war schon, dass ich durch meine Erkrankung komplett aus meinem Sozialleben rausgeflogen bin. Als Selbständiger kennst du viele andere Selbständige, zum Beispiel einen Kumpel, der Maler ist, aber diese Leute sind nicht greifbar, weil sie selbst viel zu tun haben.

Das heißt, du hast es durch den Job überwiegend mit anderen Unternehmern zu tun gehabt. Was hast du selbst denn beruflich gemacht?
Ich war in der Möbelmontage und als Bodenleger tätig, hab dann das Spektrum nachher erweitert, da hatte ich dann Großkunden wie Siemens oder die Deutsche Bank, wo du vom Möbelhersteller die Büros ausstattest, und da bin ich dann als Subunternehmer hingefahren und hab die Sachen aufgebaut. Als Bodenleger hab ich dann Fertigböden verlegt.

 

Wie lange warst du selbständig?

Ich hab mich erst wieder selbständig gemacht 2007, weil ich zwischendurch mal in Afrika war. Mit 25 habe ich mich als Handwerker erstmals selbständig gemacht. Gelernt habe ich mal Industriemechaniker, also Schlosser. Meine lebhaften Zeiten waren zwischen 17 und 22, da war ich Krimineller, Halbkrimineller, völlig Krimineller, bis ich dann reell als Handwerker gearbeitet hab. Ich war ein kleinkrimineller Huchtinger, hab viel Scheiße gebaut, so mit Autos, Radios und solchen Sachen.


Andy Müller mit Graffiti-Portrait in Huckelriede
Andy Müller mit Graffiti-Portrait in Huckelriede
Mit dem Rolli über die Straße - Andy ist dabei flink
Mit dem Rolli über die Straße - Andy ist dabei flink
Huckelriede im Herbst 2018. Andy Müller genießt das milde Wetter.
Huckelriede im Herbst 2018. Andy Müller genießt das milde Wetter.


Andy, du warst ja nun sehr aktiver Handwerker, scheinbar mit vollem Auftragsbuch, und dann irgendwann hat die Krankheit an die Tür geklopft, oder wie kam das?

2010 hatte ich die ersten Symptome, und da dachte ich selbst noch, weil das von innen her los ging, das war eine innere Unruhe. Mein Körper war richtig am flattern, sowas kannte ich nicht. Über Neurologie hat man ja als Handwerker keine Ahnung, und so empfand ich die ersten Anzeichen als innere Unruhe. Ich erinnerte mich damals an Robert Enke, der hatte kurz vorher, Ende 2009, Selbstmord begangen, und ich hatte verdammt viel gearbeitet, verdammt viel Stress gehabt, scheinbar war das bei mir sowas wie Burnout. Ich konnte mich nicht mehr richtig konzentrieren und hab mich gefragt: Was kann das sein, das muss Psyche sein. Ich hab ja keinen Unfall gehabt, ich hatte ja nichts anderes. Daraufhin bin ich gleich zum Psychologen gegangen, da hab ich auch schnell gemerkt, dass der wohl überfordert mit mir war, und dann hat er mich in die Heinesklinik überwiesen. Ich dachte, da sind Profis, die mir helfen können, und hab denen gesagt: Leute, ich bin selbständig, seht zu, dass ihr mich wieder an den Start kriegt. Der erste Satz dort war dann aber gleich knallhart: Hier wird ihnen nicht geholfen. Die sehen sich als eine Art Notstation, du kommst da ohne Termin rein, und wenn du schlimm drauf bist, kannst du dich da einweisen lassen.

 

Dass heißt, die verwalten dich nur, damit du wieder auf die Spur kommst?

Dass heißt, wir labern dich voll und geben dir Tabletten. Nach drei, vier Tagen bin ich wieder besser klar gekommen, hab gemerkt, dass ich lange keinen Urlaub mehr hatte, bin ich bisschen runter gekommen, und hab mir vorgenommen, erstmal Urlaub zu machen. So hab ich das für mich gesehen. Da gab es aber auch junge Leute, die echt nicht klar kamen mit ihrem Leben, mit Borderline und sonstigen Störungen, Leute mit Selbstmordgedanken, und dann schicken sie die Leute wieder raus. Viele bleiben rund fünf Wochen, das ist immer so eine Standardzeit, hat was mit den Verschreibungen zu tun.

 

Und dann bist du da raus?

Ja, nach ein paar Wochen, und auf deren Empfehlung bin ich dann auch noch ein halbes Jahr zum Therapeuten gegangen, der dann auch eindeutig festgestellt hat, dass ich keine Depression hab. Ich hab dem damals gesagt, dass mich diese Unruhe von innen auffrisst, dass kam dann immer intervallmäßig, mal war das da und mal wieder nicht. Wenn du eine Wunde hast oder du hast dir den Daumen gebrochen, dann siehst du das, aber wenn du was mit der Psyche hast, dann siehst du das nicht. Ein Schlüsselmoment war zum Beispiel, als ich bei mir zu Hause meine Wände gespachtelt habe, da ging das plötzlich nicht mehr. Ich konnte mich nicht mehr richtig auf die Arbeit konzentrieren. Vor ein, zwei Monaten hatte ich noch eine ganze Wand gespachtelt, und jetzt gingen meine Hände auf einmal nicht richtig. Das war skurril. Und sitzt ja auch keiner und unterhält sich mit dir, sondern da stehst du in dem Augenblick vor der Mauer und schnallst nicht, warum deine Hände nicht funktionieren. Da ich ja eh ein viel nachdenkender Mensch bin, bin ich dadurch eben auf die psychische Schiene gekommen. 


Das Quartierszentrum des Martinsclubs in Bremen-Huckelriede
Das Quartierszentrum des Martinsclubs in Bremen-Huckelriede
Andy Müller in seiner Lieblingspose: debattieren, philosophieren
Andy Müller in seiner Lieblingspose: debattieren, philosophieren
Herbst 2018 - Andy Müller am Niedersachsendamm in Bremen-Huckelriede
Herbst 2018 - Andy Müller am Niedersachsendamm in Bremen-Huckelriede


Wie ging es dann für dich weiter?

Ich hab's mittlerweile kapiert: wir haben kein Gesundheitssystem, wir haben ein Wirtschaftssystem, das sich mit Medizin beschäftigt. In dem Augenblick, wo du deine Diagnose hast, brauchen die auch gar nicht weiter gucken. Bei mir passt so vieles nicht in die MS, dann ist das ja auch noch so eine Unterform und so weiter. Die verdienen einfach ein Schweinegeld an dir. Ärzte, Psychologen, alle - die besuchst du und fragst die, weißt du eigentlich, was du mir verschrieben hast, und die Antwort ist: Nö, hab ich aber da drin stehen. 

Gehst du zum Neurologen, wo ich hin muss mit meiner Erkrankung MS, ist da immer der Psychologe mit drin. Die erste Frage lautet dann immer: "Wie geht's Ihnen?", das betont der so extra, also nicht wie ganz normale Menschen, sondern extra "Wie geeeeeht's Ihnen", dann taucht auf der Rechnung die neurologische Behandlungsstunde und die psychologische Behandlungsstunde auf. Warum? Weil er dich ja gefragt hat, wie's dir geht. Das machen die alle so. Und das dürfen die. Das Schlimme ist, dass das niemanden interessiert.

Wenn ich als Handwerker zu dir komme, baue Scheiße oder mach meine Arbeit nicht gut, und du siehst als mein Kunde, hey, deine Arbeitsplatte ist zehn Zentimeter zu kurz, dann zahlst du mir erstmal zehn Prozent weniger oder so, was weiß ich, du kriegst auf jeden Fall nicht das ganze Geld. Mach das mal mit einem Arzt! Du hast mich irgendwie schlecht behandelt, da streich ich dir das Geld - das geht nicht, das ist in diesem System nicht vorgesehen. Du hast zu zahlen. Es geht nicht darum, ob's gut oder sinnvoll ist, du musst bezahlen."